10. März 2034
Moritz (23) ließ seine Beine vom Balkon seiner WG in Leipzig baumeln. Seine Augen suchten durch das Gitter das Weite, während seine Freundin in umgekehrter Richtung Erdbeerjoghurt durch die Eisenstäbe in seinen Mund löffelte. Es war der 10. März 2034, und die Sonne schien. „Corona“, dachte Moritz, als er seinen Blick aus der unbestimmten Ferne auf den schon wieder durch die Balkongitterstäbe näher kommenden erdbeerrot beladenen Löffel lenkte.
„Ich will nicht mehr!“, sagte er und schloß die Lippen so heftig, daß der Löffel an ihnen abprallte und Susanne aus der Hand und einer die Straße entlang spazierenden alten Frau in die Frisur fiel. „Hochrisikogruppe!“, dachte Moritz und gab Susanne, die enttäuscht damit begonnen hatte, den Joghurtbecher auszulöffeln, einen Kuß, sicherheitshalber nicht auf den erdbeerroten Mund. - Eigentlich hatte er ja nicht besonders gelitten damals, als er in die dritte und dann die letzte Klasse der Grundschule ging und die Tagesabläufe plötzlich mal diese und mal jene Art von Präsenz verlangten. Ihm war der Unterschied, den das machte, damals – anders als den meisten Anderen - gering erschienen. Aber irgendwie muß die Situation, die er beobachtet hatte, doch einen tieferen, geradezu traumatischen Eindruck auf ihn gemacht haben, so daß ihn immer um den Jahrestag der ersten von Corona bedingten Präsenzbeschränkungen herum déjà vu Erlebnisse plagten, das Virus als Wiedergänger! Die Impfungen jedes Jahr zu Herbstbeginn waren inzwischen zu einem Ritual geworden; aber Moritz interessierte das Virus selbst und seine Wirkungsweise auf die Gesellschaft mehr als seine Verhinderung. Das paßte zu seinem Studium der Molekularbiologie, des öffentlichen Gesundheitswesens (Public Health), der Geographie und Politikwissenschaft, für die es allerdings selbst in Leipzig noch keinen zusammenfassenden Bachelor-Studiengang gab. Für das kommende Semester hatte Moritz eine Übung zu „Staatspolitische Folgen der Corona-Pandemie“ belegt und dazu schon mal ein Papier verfaßt. Er sah die Folgen, der ja immer noch vor sich hin köchelnden Pandemie positiv, zumindest für Deutschland und das westliche Europa. Die Vorstellung eines für seine Bürger und –innen sichtlich und auf unterschiedlichen Ebenen „arbeitenden“, nach Lösungen suchenden und Fehler machenden Staates hatte die meisten Menschen als Bilder ihrer selbst überzeugt. Deutschland konnte sich das auch finanziell leisten. Und Frau Merkel machte ihre Sache eben anders als die Johnsons & Co. – aber auch als Macron - und hatte gerade noch genug Zeit gehabt, einen Stil des Umgangs des Staates mit der Krise zu prägen, der als eine dem Grundgesetz am besten entsprechende Praxis durch den auf sie folgenden, mit einer Jamaika-Koalition regierenden Bundeskanzler Brinkhaus im Wesentlichen fortgeführt wurde. Der kooperative Staat ging gefestigt durch die Krise. Als collateral benefits, und das war Moritz‘ zweite These, erwiesen sich für Deutschland im Zuge der Krise zu verzeichnende Begradigungen gewisser wirtschaftlicher Weltmachtallüren und damit wohl irgendwie verbundener Übertreibungen des Konsums i.S. von etwas mehr Reflektiertheit . Die Krise hatte gerade in Deutschland einigen für Staat und Gesellschaft gefährlichen Übermut entlarvt, wie die Möglichkeit eines Unternehmens wie „Wirecard“ und das Eindringen mafiöser Organisationen, und den Spuk von einer Million deutscher Touristen bei Ausbruch der Pandemie, die wie verirrte Kinder von Vater Staat nach Hause geholt werden mußten. In gewissem Umfang konnte das Land sich wieder „ehrlicher machen“, und es scheint kein Wunder, daß gerade die SPD und 2021 besonders Olaf Scholz darunter zu leiden hatten. Erstaunlicherweise blieben „Die Grünen“ weitgehend verschont. Moritz‘ dritte These ist, daß noch nicht entschieden ist, ob „Europa“ – in Gestalt der EU, aber auch darüber hinaus im Osten -, die sich konsolidierende deutsche Selbstfindung mitmacht oder nicht. Jedenfalls bietet das - oberflächlich betrachtet – schwächer gewordene Deutschland weniger, auch innenpolitisch zu nutzende, Angriffsflächen, und Bibitsch, Orban und Katschinski sind bereits 2024, fast gleichzeitig, ohne daß Putin dafür konnte, gestorben. Im selben Jahr ging Northstream 2 in Betrieb, und danach wurde Belorus in die Russische Föderation eingegliedert. – die damit immerhin ihr Demokatiepotential gestärkt hat. – Moritz geriet ins Sinnieren darüber, ob in der Politik Schwäche auch Stärke sein kann und Stärke auch Schwäche. Susanne war gegangen und hatte den leeren Erdbeerjoghurtbecher neben ihn gestellt.