10. März 2034

Rudra (28) sitzt auf der großen Terrasse seiner kleinen Wohnung in Nord-Delhi, die die Eisenbahngleise nach Chandighar überragt, und wartet auf den Sonnenaufgang, um mit dem Schreiben zu beginnen. Als er gestern Abend erfuhr, daß sein Vater an der neuen Variante des Covid-Virus erkrankt war mit durchaus ernsthaften Symptomen der Krankheit, hatte er sich gewundert und beschlossen, soweit er sie versteht, die Geschichte seines Vaters aufzuschreiben.

Besuchen kann er ihn jetzt nicht. Seitdem das Virus mit immer wieder unterschiedlichen Varianten begonnen hatte, mal mehr mal weniger, auch Indien heimzusuchen, war sein Vater Aschwini nie daran erkrankt, hatte es auch nie für nötig befunden, sich impfen zu lassen, sondern hatte sich, wenn man ihn fragte, auf seine Kraft und Stärke und seine Lebensart berufen. Diese besondere Kraft sah er auf die eine oder andere Weise auch im indischen Volk insgesamt am Werke, das ja schon damals, als die Pandemie vor vierzehn Jahren begonnen hatte, um sich zu greifen, offenbar weniger von ihr betroffen war als andere Länder und Völker - und wohl auch weniger Geschrei veranstaltet hatte als diese. Rudra, der den deutschen Freund seines Vaters noch am Morgen seiner Abreise aus Indien, am 10.März 2020, als erster zu dessen Überraschung mit „Hi Corona!“ und dem Ellenbogenstoß lachend begrüßt hatte, und auch die Zeit seitdem ziemlich gelassen genommen und beobachtet hatte, bewunderte seinen Vater, konnte aber nicht umhin, dessen Selbstbewußtsein manchmal zu hinterfragen. Er trug ja selbst einen der vielen Namen, den ältesten, des Gottes Schiwa, den sein Vater ihm gegeben hatte, und er konnte sich vorstellen, daß die große Willenskraft seines Vaters, die diesem vor viele Jahren schon einmal geholfen hatte, die Folgen eines Gehirnschlags ganz und gar zu überwinden, mit dessen Überzeugungen vom Spiel der Götter in Indien und ihrer besonderen Kraft in Teilen der Gesellschaft und einigen Auserwählten zusammenhängt. Aschwini ist ein Jath, Angehöriger also sehr selbstbewußten Kaste! Von seinem eigenen Vater, Rudras Großvater, einen harten Polizeioffizier, der willentlich die Beziehung zu seinem Sohn zerstörte, hat er sich freigekämpft. Nun ist er erkrankt; Rudra macht sich Sorgen.

Auch Indien ist krank. Das Auftauchen des Virus, trotz allem weit heftiger als die Statitiken preisgeben, hat die vielen Teilungslinien im Land nachgezogen und im Bewußtsein der Leute verhärtet. Die vielen Bevölkerungsgruppen mußten – und müssen bis heute - selbst irgendwie zurechtkommen und werden immer wieder von der Regierung zu deren Machterhalt gegeneinander ausgespielt. Die ohnehin schwache Idee von Gemeinwohl, die Demokratie und der Rechtstaat wurden von „Delhi“ immer mehr zerstört. Das Virus ist dabei schon lange nichts Besonderes mehr, obwohl es immer wiederkehrt; es hat sich lediglich den vielen Krankheiten, die mal mehr, mal weniger das Leben bestimmen, hinzugesellt. Aber die fortbestehenden Unterschiede zwischen den Kasten und mehr noch das Gefälle zwischen Stadt und Land und Arm und Reich hat es gleich zu Anfang vertieft und den Hindunationalisten geholfen. Auch die Spannungen zwischen dem auf den Konflikt mit dem muslimischen Bevölkerungsteil fixierten und wirtschaftlich immer weniger prosperierenden Norden und dem nach Offenheit und größerer Selbständigkeit strebenden, sich wirtschaftlich gut entwickelnden Süden haben sich verstärkt. Das war alles schon vorher angelegt, aber Corona hat der Entwicklung noch einmal einen kräftigen Anstoß gegeben. Die Regierung in Delhi setzt auf den chinesischen Weg von Unterdrückung und Kontrolle, und dazu paßt, daß im Lande derzeit im Großen und Ganzen jeder an seinem Platz verharrt. Wenn überhaupt, dann muß der Aufbruch aus dem Süden kommen! Rudra , der IT-Ingenieur und geheime Schriftsteller, hat sich eine Arbeit bei SAP in Bangalore besorgt, was ausgesprochen schwierig gewesen war; aber er will den Job erst einmal von Delhi aus erledigen, jedenfalls bis es Aschwini wieder besser geht.