10. März 2034

Alexis (49) ist Franzose, Pariser, mit armenischen Wurzeln. Er ist Musiker, Pianist, und hatte gerade eine professionelle Band gegründet, für die er bis heute auch komponiert, eher zarte, lyrische Klänge, als vor vierzehn Jahren Corona damit begann, auf Europa und besonders heftig auf Frankreich einzudreschen.

Die Band ist damals online gegangen, ihre Mitglieder konnten zum Teil in ihre alten Jobs zurückkehren, zum Teil schlecht bezahlte neue finden; jedenfalls hat die Band das erste Jahr der Pandemie überlebt und dann auch das - jetzt seltener gewordene – periodische Herunterfahren des Kulturbetriebs in den Jahren seitdem, wenn der Impfschutz mal wieder gegen neue Mutationen nicht ankam. Alexis Band hat sich einen Ruf erobert und tritt – eher widerwillig - seit einigen Jahren, jedenfalls in der Provinz auch vor größerem Publikum auf, heute Abend, am 10. März 2034, erstmals in Paris, im Odéon, wo ihr vor allem Studenten zuhören werden. Während in der ersten Zeit der Lockerungen viele noch vor allem laute Töne hören wollten, in großen Veranstaltungen, in denen man sich Platz machen konnte, gab es in Paris auch einen schnell anwachsenden Zug hin zu kleineren Musikveranstaltungen, in denen man wieder dichter zusammenrückte, oft gegen die Vorschriften, und den Bewegungen der Künstler und ihrem Mienenspiel und Atmen folgen konnte. Diese Vorliebe für kleine Räume unmittelbaren Erlebens schien Alexis eine sublime Reaktion auf die in Frankreich ziemlich weitgehenden Beschränkungen der ersten eineinhalb Coronajahre zu sein, eine Art nachholende Aneignung der erlittenen Maßnahmen. Sie widersprach aber auch nicht dem Naturell der Franzosen und Französinnen, die die große Öffentlichkeit weit weniger lieben als man ihnen nachsagt. Jedenfalls war Emmanuel Macron 2023 durch Marie Le Pen ersetzt worden, die viel weniger polarisierte als erwartet und auf eine äußerlich restaurative Politik setzte, die es verstand, sozialer Ordnung durch Einbindung auch ihr eigentlich feindlicher Gruppen, wie der großen muslimischen Minderheit, näher zu kommen. Die Wirtschaftsleistung Frankreichs nahm ab, aber ebenso auch die Ansprüche, die Staat und Gesellschaft in Frankreich gegeneinander auszufechten gewohnt waren. Der Staat förderte keine ‚großen Projekte‘ mehr, sondern in erster Linie kleine und mittlere Betriebe, was zur Stabilität beitrug, aber zunächst wenig zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit der französischen Wirtschaft. Letztes Jahr bekam Frankreich dann sogar wieder in weitgehend friedlichen Wahlen einen sozialistischen Präsidenten. In dem Maße, wie Marie Le Pen der Politik so zu sagen die Spitze genommen hatte, erlebte Frankreich nach innen und außen wachsende Anerkennung seiner Kultur und Lebensart. Der Massentourismus hat die Niederlage der Coronajahre bisher nicht verwinden können; aber die Zahl der Menschen, die sich eigene Faust auf den Weg machen, hat wieder zugenommen, und bei denen stehen gerade Paris und Frankreich nach der weltweiten Aufhebung der störendsten Reisebeschränkungen wieder hoch im Kurs, - komplementär zu Berlin. Des Öfteren war Alexis in den letzten Jahren mit seiner Band zu Konzerten nach Deutschland gefahren. Dabei hat er den Eindruck gewonnen, daß es zwischen Deutschen und Franzosen gerade besonders gut läuft. Die Coronaerfahrung hat die Menschen einander näher gebracht, ohne daß es dazu noch viel staatlicher Nachhilfe bedarf. Nach Corona, oder, wie es doch eher scheint, in der Spätphase des Virus, scheinen die Staaten Europas erschöpft Alexis erlebt diese Zeit nach dem Anfang der Zwanziger gerade als eine glückliche Zwischenphase.