Auswirkungen der Pandemie auf die Religionen und das religiöse Verhalten.

Es ist von hier aus schwer, die Lage der Religionen weltweit zu Zeiten von Corona in den Blick zu nehmen. Aber schon in Deutschland und in Europa läßt sich feststellen, daß die Spannungen innerhalb der Religionsgemeinschaften und im Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften unter dem Eindruck des Virus eher zugenommen haben. So richtete sich öffentliche Mißtrauen, ein möglicher Verbreitungsherd des Virus zu sein, jedenfalls zu Anfang auch gerade gegen kirchliche Veranstaltungen. Dabei scheint es vorläufig so als zeigten die Religionsgemeinschaften selbst allgemein ein niedriges, angepaßtes Profil, das im Gegensatz steht zum religiösen und pseudoreligiösen Verhalten Einzelner und von Gruppen der Gesellschaft. Vermutlich war das ja auch schon so zu Zeiten der Spanischen Grippe vor hundert Jahren, der letzten großen Seuche im hiesigen Raum.

Es kann aber sein, daß die Bedeutung von Religion und religiösem Verhalten auch in westlichen, weitgehend säkularisierten Gesellschaften unter dem Eindruck der Pandemie zunimmt. So wird einerseits aus kirchlichen Kreisen in Deutschland von einem starken Gebrauch der angebotenen virtuellen Begegnungsmöglichkeiten, z.T. weit über die gewöhnliche Inanspruchnahme von Präsenzgottesdiensten hinaus berichtet, andererseits haben Demonstrationen von Leugnern und Leugnerinnen des Virus und von Anhängern von Verschwörungstheorien oft pseudoreligiösen Charakter. Zwischen beidem steht in unseren Breiten das Verhalten freikirchlicher, gelegentlich auch orthodoxer Gemeinschaften. - Jedenfalls wurde nichts, oder nur wenig, von öffentlichen Bußprozessionen und Bekehrungsbewegungen bekannt wie zu Pestzeiten in früheren Jahrhunderten. Theologische Deutungen, soweit mir bekannt, sehen in erster Linie Nächstenliebe und Zusammenstehen und in zweiter Linie das Eintreten für die Erhaltung der Schöpfung als von der Krise besonders herausgeforderte Glaubenszeugnisse.

Die in vielen Ländern seit langem nicht mehr die Gesellschaft als Ganzes umfassenden Glaubensgemeinschaften zeigen damit dennoch ein vorrangig am Gemeinwohl orientiertes Verhalten, lassen damit aber auch im Bereich religiösen Verhaltens Raum für radikalere theologische Deutungen und sektiererische Bewegungen angesichts der Seuche, die mehr noch als in anderen europäischen Ländern gerade in Deutschland überraschende Ausmaße angenommen haben. Während der Mainstream der Religionen, möglicherweise weltweit, eher Frömmigkeit, Besonnenheit und die solidarische Tat, vielfach im Sinne auch der staatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben, empfiehlt, geht das erklärte und unerklärte religiöse Protestpotential eigene, autonome Wege. Dabei ist die Trennlinie zwischen religiöser und anderer, insbesondere utilitärer, Inspiration solcher Bewegungen nicht immer leicht zu ziehen, eine Beobachtung und Wertung unter religionssoziologischen und theologischen Aspekten aber jedenfalls angezeigt.

Die Reaktionen von Religionen und religiös motiviertem Verhalten auf das Virus hat über den eigenen Bereich hinaus erhebliche Bedeutung auch für die Legitimation staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, für das Eintreten für soziale Gerechtigkeit und für den Umgang mit den irdischen Lebensgrundlagen unter dem Eindruck der Pandemie.

Hans-Joachim Kiderlen, 18.1.2021