Der Beginn der Wahrnehmung des Covid-19- Virus als eine globale Bedrohung wird im kommenden Frühjahr ein Jahr her sein, und voraussichtlich wird ein Ende des Phänomens nicht absehbar, aber eine gewisse Gewöhnung daran zu beobachten sein. Insbesondere werden die Überschneidungen zwischen Gesundheitsfürsorge und der Sorge um das wirtschaftliche- und gesellschaftliche Leben größer geworden sein. Inwieweit hingegen der längerfristige Umgang mit der Pandemie nachhaltig auch die Auseinandersetzung mit den Menschheitsfragen der Gerechtigkeit und des Klimaschutzes voranbringt und das in starke Bewegung geratene Feld der Regierungsformen in der Welt unter seinen Pflug nimmt, wird schwerer abzusehen sein. Die globale Verbreitung von Viren ist kein neues Menschheitserlebnis; aber kein Virus zuvor hat unmittelbar - und mehr noch mittelbar - dermaßen heftig in Selbstwahrnehmung und Verhalten des Einzelnen wie auch gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Gruppen und Systeme eingegriffen wie das gegenwärtige. Zu den bisherigen Entgrenzungserfahrungen der Globalisierung seit Bildung der neuzeitlichen Kolonialreiche ist die Erfahrung dieses Virus in ein dialektisches Verhältnis getreten, - im industrialisierten Norden entstanden, definitiv keine „Tropenkrankheit“, gegen die der ‚Norden‘ sich noch abschotten könnte. Die Trennung zwischen Arm und Reich, die ihre Zick-Zack-Linien schon lange in die Geographie sowohl des ‚Nordens‘ wie des ‚Südens‘ einträgt, könnte einen größeren Unterschied zwischen Betroffenen und weniger Betroffenen machen, als die alte Unterscheidung zwischen ‚entwickelten‘ und ‚Entwicklungsländern‘.

Das Verhalten der Menschen zueinander und untereinander und ihr Verhältnis zum Gemeinwesen in seinen verschiedenen Schichtungen, dem Staat insbesondere, wird von der Pandemie unter Druck gesetzt. In der Sphäre des Einzelnen ist es die Frage der zulässigen und der angemessenen Nähe, im gesellschaftlichen Zusammenhang das Verhältnis von Norm und Überschwang, die zu justieren sind. Soweit darauf die Religion noch einen Einfluss hat, müsste der Islam mit seinem stark auf Hygiene abzielenden Regelwerk dabei im Vorteil sein. Aber auch sozialethische Fragen werden neu belebt, vor allem, so scheint es in ‚unseren‘ Breiten, die Frage der Ansprüche von Leben und Lebensende. Auf staatlicher Ebene ist über die Forderung an die Politik, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesundheitsfürsorge auszutarieren, ohne soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz aus den Augen zu verlieren, die Frage nach staatlichem Handeln und nach der gewollten Staatsform überhaupt von der Pandemie verstärkt aufgeworfen worden.

Ich schlage drei Themenbereiche vor, die später zusammengeführt werden sollen:

  • Die Zukunft staatlicher Legitimität: Befördert die Pandemie deren Auflösung – in Unordnung oder Autoritarismus -, oder wie kann der Umgang mit der Pandemie auch einen Konsens hervorbringen, der den demokratischen Staat stärkt?

  • Die Zukunft sozialer Gerechtigkeit: Befördert die Pandemie ein Verhalten des ‚Rette sich wer kann!‘, oder wie kann der Umgang mit ihr Bestrebungen nach Solidarität und Gerechtigkeit – lokal und global – stützen? Wie kann Gerechtigkeit weltweit verstanden werden trotz – oder in Verbindung mit - notwendigen Beschneidungen der Globalisierung in anderer Hinsicht?

  • Die Zukunft der Bewahrung der Erde: Befördert die Pandemie einen schonenden Umgang mit den Ressourcen der Erde nur kurzfristig – als collateral benefit der Krise -, oder wie kann sie die Hinlenkung von Wirtschaft und Verbrauch in eine mit der Bewahrung der Erde verträgliche Richtung mitbewirken?

  • Die Zukunft der Religion: Befördert die Pandemie extremistische Entwicklungen und Pseudoreligionen,mit negativen Folgen auch für Staat und Gesellschaft oder kann von der Erfahrung der Pandemie eine Erneuerung ursprünglcher Religiosität ausgehen?

Hans-Joachim Kiderlen, 13.10.2020 (ergänzt 18.1.2021)