Die Erkenntnis, dass soziale Ungleichheit nicht das Spiegelbild gegebener individueller oder kultureller Verschiedenheit ist, ist die Hauptursache der neuzeitlichen Bemühens um soziale Gerechtigkeit. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist eng mit der nach der Wirtschaftsordnung verbunden. Der soziale und wirtschaftliche Wandel wirft die Frage nach Gerechtigkeit einer Gesellschaft, eines Staates oder im zwischenmenschlichen Verkehr immer neu auf. Hier ist der Weg das Ziel. Inwieweit also verändert die gegenwärtige, aus der Coronapandemie entstandene Krise Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und die Wege zu ihr?
Das bedrohliche globale Auftreten des Virus könnte im Gegenzug globale Solidarität und Gerechtigkeit fördern. Tatsächlich scheint es eher den Wettkampf der Systeme anzuheizen und die Forderung nach weltweiter Gerechtigkeit zu schwächen. Allerdings scheint das Virus selbst die Gerechtigkeit zu befördern, indem es z. B. die junge Bevölkerung der ärmeren Staaten der ‚dritten Welt‘ weniger trifft als die alte Bevölkerung des reicheren Nordens. Andererseits bleibt die Trennung zwischen Arm und Reich überall auch für die Auswirkungen des Virus relevant.
Innerhalb einer Gesellschaft – insbesondere einer liberalen, marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft, aktualisiert das Auftreten des Virus die uralte Frage nach den Rechten und Ansprüchen von Alt und Jung gegeneinander und füreinander. Die Frage nach der Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen wird neu diskutiert, insbesondere im Hinblick auf einen größeren Anteil des Staatssektors und des Gesundheitswesens im Verhältnis zu Vermögen und Konsum. Die Möglichkeit eines generellen durch Corona bedingten Verlustes an Reichtum und Wohlstand kann zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung um Verteilungsgerechtigkeit führen.
Auch die ohnehin diskutierte Frage des Verhältnisses von Global und Lokal bei Produktion und Verkehr, einschließlich des Tourismus, stellt sich neu unter dem Aspekt der Pandemie, allerdings dauerhaft wohl weniger radikal als zu Anfang angenommen. Mit dieser Frage ist die weltweite Gerechtigkeit im Verhältnis zu Niedriglohnländern ebenso verbunden wie die eines gerechten Zugangs zum Reisen als Teil einer gewachsenen Lebensweise in entwickelten Gesellschaften.
Der Umgang mit dem Reisen berührt allgemein die grundsätzlichere Frage eines Anspruchs auf unmittelbares Erleben, das sich verstärkt durch das Distanzgebot zur Eindämmung der Pandemie abzuheben beginnt von dem immer weiter gehenden kompensatorischen Verweis auf digitale Mittel der Kommunikation und des Erlebens. Daraus könnte sich eine neue soziale Frage ergeben, der persönliches, unmittelbares Erleben einerseits als Privileg einer Gruppe von Zeitgenossen, andererseits, Aldous Huxley lässt grüßen, als Verdammnis einer Unterschicht begegnet.
Hans-Joachim Kiderlen, 6.11.2020