In der aktuellen Situation sind zwei Dinge in Europa zu einem recht hohen Grade außer Kraft gesetzt: die kapitalistische Wirtschaftsweise und die Bürgerrechte der meisten Europäer*innen. Auch deswegen sehen Antikapitalist*innen, Kämpfer*innen gegen den Klimawandel, Befürworter*innen autokratischer bis diktatorischer Regime oder starker Nationalstaaten, Globalisierungskritiker*innen und Fans der digitalen Überwachung eine Chance gekommen, ihre jeweiligen Ziele im Hinblick auf die Welt nach der Pandemie voranzubringen. Dem gegenüber stehen viele Menschen, die in großer Sorge um ihre wirtschaftliche Existenz und/oder großer um ihre Gesundheit oder die ihnen nahestehender Menschen sind.
1 Gesundheits- und Pflegesystem, und andere “sytemrelevante” Arbeit
In den Bereichen des öffentlichen Gesundheitssystems sehe ich die Chancen, dass sich durch die aktuelle Pandemie evtl. danach etwas zum Besseren wenden könnte am ehesten gegeben. Die kontraproduktiven Wirtschaftlichkeits- und Renditeanforderungen an Krankenhäuser, der Pflegenotstand, die generell schlechten Arbeitsbedingungen für pflegerisches und ärztliches Personal sind offensichtlich, und selbst die eingefleischtesten Neoliberalen wünschen sich im Zweifel – zumindest für das eigene Umfeld – eine gute gesundheitliche Versorgung. Entscheidend wird sein, ob die Beschäftigten in diesem Sektor nach der Krise in der Lage sein werden, die zu erwartende öffentliche Unterstützung in den anstehenden Arbeitskämpfen auszunutzen; der gegenwärtige Zustand der Gewerkschaften hingegen lässt daran aber zumindest Zweifel aufkommen. Für die in anderen “sytemrelevanten” Berufen Beschäftigten, bei denen sich gerade auch bei jeder Gelegenheit öffentlich bedankt wird (Verkäufer*innen, Müllabfuhr u.s.w.), wird es eher schwieriger sein, nach der Krise eine Verbesserung ihrer Arbeitsumstände herbeizuführen.
2 Grundsicherung, Wohnen
Die temporäre teilweise Aussetzung von Nachweisen der Bedürftigkeit bei der Grundsicherung, das Räumungsveboten bei Mietschulden o.ä. sind sicherlich nicht von langer Dauer. Diese zeitlich befristeten Ausnahmen könnte höchstens ein paar Menschen mehr auf Ideen bringen wie die, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen vielleicht doch nicht zwangsläufig unser Sozialsystem zusammenbrechen lässt. Ich fände in diesem Zusammenhang ja die Idee einer generellen Mietaussetzung während der Coronakrise zusammen mit staatliche Hilfen für Vermieter*innen, die dadurch nachweislich Probleme bekommen, theoretisch sehr interessant (ähnliche Petitionen kursieren auch schon fleißig) – nur leider komplett unrealistisch in einer Gesellschaft, in der Eigentumsrechte ja wohl schwerer beschnitten werden können als Grundrechte (s.u.).
3 Finanzierung von Maßnahmen, Staatsschulden
Eine doch recht bemerkenswerte - und in meinen Augen begrüßenswerte - Verschiebung der Maßstäbe findet allerdings gerade statt bei der Frage, woher das Geld für Hilfen für notleidende einzelne Bürger*innen, Unternehmer*innen, Krankenhäuser, Verwaltung und Industrie genommen werden könnte. Die Maastrichtkriterien wurden ausgesetzt, über vormals verteufelte Instrumente der Geldpolitik wir diskutiert, und selbst in Deutschland wird offen daran gearbeitet, die immerhin erst recht kürzlich im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse zu umgehen. Allerdings ist auch hier die Frage, inwieweit all das wirklich eine Änderung zum Besseren bewirken wird. Erstaunlich ist jedoch, dass ernsthaft sogar über so unkonvetionelle Maßnahmen wie “Helikoptergeld” gesprochen wird. Insgesammt bin ich, was die kurzfristige Krisenbekämpfung angeht noch einigermaßen optimistisch, dagegen ist bei den nach der Krise bestimmt kommenden Stimuli eher zu bezweifeln, ob diese das Format einer Art “grünen Marshallplans mit Förderung einer demokratieverträglichen Digitalisierung” haben dürften. Es könnte aber sein, dass die nach der letzten Finanzkrise verpassten Fragen zur “Alternativlosigkeit” unseres Geldsystems immerhin andiskutiert werden.
4 Industrie und Wirtschaft
Die zu erwartende Rezession wird laut eines Sondergutachtens der Wirtschaftsweisen in Deutschland voraussichtlich einen Rückgang des BIP um 2,8 Prozent bewirken, der Rückgang könnte aber auch im Bereich des durch die letzte Finanzkrise hervorgerufenen liegen (2009 schrupfte die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent). Während viele Unternehmen der Gastronomie, der Turismus- und Transportindustrie, und viele andere Dienstleister mit existenzbedrohenden Problemen konfrontiert sind, könnte es für die produzierende Industrie (in Deutschland) evtl. glimpflicher ausgehen, insbesondere da auch entsprechende staatliche Hilfsinstrumente bereitstehen oder bereitgestellt werden und z.T. auch schon mit gutem Erfolg in vorangegangenen Krisen erprobt wurden (z.B. Kurzarbeit). Im Wesentlichen wird es in bewährter Manier darauf hinauslaufen, dass der Staat dem Kapitalismus
“aushilft” solange es vonnöten ist, und sich dann wieder zurückzieht. Trotzdem werden bestimmte gesellschaftliche Gruppen insbesondere der Arbeitnehmer*innen und Kleinunternehmer*innen unter erheblichen negativen Auswirkungen zu leiden haben.
5 Die Rolle des Staates, Nationalismus
In wirtschaftlichen Krisen rufen selbst die marktgläubigsten normalerweise nach dem Staat. In vielen Gebieten wird deutlich, dass dem staatlichen System in Zukunft wohl wieder eine etwas größere Bedeutung zukommen wird, wenn es z.B. um die Organisation des Gesundheits- und Pflegesystems geht, das in den letzten Jahrzehnten in fahrlässiger Weise mehr und mehr der Marktlogik untergeordnet wurde. Auch bei der Bereitstellung strategischer Reserven im Gesundheiswesen (ähnlich wie z.B. bei Öl- und Lebensmittelreserven) wird der Staat in Zukunft vermutlich Aufgaben übernehmen. Insgesamt lässt sich auch beobachten, dass entgegen aller Sonntagsreden, Europa bei der Krisenbekämpfung relativ drastisch versagt hat und die Mitgliedsstaaten ihr Heil im Nationalen suchen (insbesondere Deutschland tut sich hier einmal mehr durch die Ablehnung von Eurobonds hervor; aber auch Ausfuhrverbote von medizinischer Ausrüstung z.B. nach Italien waren nicht gerade ein Lehrstück europäischer Solidarität; ähnliches gab oder gibt es auch in anderen Ländern).
6 Grundrechte in Gefahr
Eine Gefahr sehe ich in der Art und Weise, wie Grundrechte in der gegenwärtigen Situation eingeschränkt werden. In Ungarn oder Polen nutzen autoritäre Regierungen die Gunst der Stunde. Ganz generell schickt sich China an, ein Beispiel dafür zu geben, wie ein diktatorisches Regime die Lage mit drastischen Mitteln effektiv in den Griff bekommt, und stellt die westlichen Demokratien damit je nach Weiterentwicklung der Lage evtl. vor Legitimationsprobleme. Ich finde es erschreckend, wie wenig in Deutschland in der gegenwärtigen Lage die (z.T. sicherlich notwendigen) Grundrechtsbeschränkungen hinterfragt werden, ja wie sogar weit in links-liberale Kreise
hinein nach weitergehenden Maßnahmen gerufen wird. Das Politiker*innen jeder Coleur anscheinend Fragen der Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit bei der Beschneidung von Grundrechten aus den Augen verlieren – und das ohne größere Kritik in den Medien oder der Öffentlichkeit – macht mir persönlich im Moment am meisten Angst.
7 Digitalisierung
Die Grundrechtsdiskussion ist insbesondere auch relevant für die gegenwärtige Diskussion verschiedener Maßnahmen der digitalen Überwachung zur Pandemieeindämmung. Ich denke, um die Vorteile “beider Welten“(also die der technischen Möglichkeiten und die der freien Gesellschaft) optimal auszunutzen, müssten die digitale Technologien zu einem großen Teil anders verfügbar gemacht werden als bisher, nämlich nicht von den großen Digitalunternehmen und auch nicht von irgendwelchen staatlichen Stellen, sondern von einer wie auch immer organisierten “Community” im Geist der Open Source-Bewegung, des CCC oder ähnlicher Denkrichtungen. Davon sind wir allerdings leider sehr weit entfernt. Im Hinblick auf das gegenwärtige Leben vieler Menschen in mehr oder weniger großer sozialer Isolation zeigt im Moment deutlich, welche Vorteile das Internet in solch einer Lage bietet. (Dass zu diesen großen Vorteilen auch verstärktes Onlineshopping gehört wage ich zu allerdings zu bezweifeln.) Oft hört man im Zusammenhang von Coronapandemie und Digitalisierung (etwas übertrieben ausgedrückt) auch, dass wir demnächst so an Videokonferenzen gewöhnt sein werden, dass mindestens die Hälfte aller Geschäftsreisen wegfallen wird – mit all den positiven Auswirkungen für das Klima; auch das finde ich sehr fraglich.
8 Klimadebatte
Sowieso scheint die “Klimaszene” z.T. geradezu elektritisiert zu sein von der Coronapandemie und ihren (möglichen) Auswirkungen. Das liegt zum einen daran, dass durch die gegenwärtige Situation der weltweite CO2-Ausstoß drastisch zurück geht. Bisher sind wirtschaftliche Rezessionen eben noch immer das bei weitem wirksamste Mittel, Treibhausgasemissionen – zumindest kurzfristig – zu reduzieren. Zum anderen ist die Coronakrise ein Präzedenzfall dafür wie versucht wird, eine globale Krise durch drastische, nahezu weltweite und vorher für nicht möglich gehaltene Maßnahmen bekämpft wird, im Prinzip also genau das, was sich viele Klimaaktivist*innen für die Klimakrise auch erträumen. Ich glaube allerdings nicht, dass ähnlich drastische Mittel im Bereich der gesetzlichen Regulierungen/Verbote im Hinblick auf das Klima durch die Coronapandemie nun wahrscheinlicher
werden, da sich an der (wahrgenommenen) Dringlichkeit der Klimakrise ja nichts geändert hat. Etwas wahrscheinlicher scheint mir, dass das der zu erwartende fiskalpolitische Stimulus, den es zur Begrenzung der anstehenden Rezession geben wird, mehr oder weniger “grün” ausfällt und dass die staatliche Rettung bestimmter Wirtschaftszweige an entsprechende Vorschriften gekoppelt sein könnte, wobei Letzteres in Anbetracht der Bankenrettung nach der letzten Finanzkise wohl doch eher Wunschdenken bleiben wird. Möglich wäre wäre es meiner Meinung nach auch, dass bestimmte Strukturen, die sich zum Beispiel als widerstandsfähig bei einer Pandemie erweisen evtl. auch im Hinblick auf den Klimaschutz von Nutzen sein könnten.
9 Strukturen (und Gemüse)
Ein kleines Beispiel hierfür: während ich in den Nachrichten zur Zeit gehäuft höre, vor welchen Problemen bestimmte Teile der Landwirtschaft gerade stehen, weil die normalerweise aus Süd-/Osteuropa anreisenden Saisonarbeiter*innen aufgrund der momentanen Einreiseverbote nicht kommen können, hat meine SoLaWi überhaupt keine Schwierigkeiten, für die anstehenden Arbeitseinsätze genügen Helfer*innen zu bekommen. Im Gegenteil besteht aufgrund der gegenwärtigen Situation eher ein “Überangebot” an Menschen, die gerne auf den jeweiligen Mitgliederhöfen helfen möchten. Dies ist natürlich ein Einzelfall, aber einer, in dem anscheinend relative Pandemieresistenz, eine klimaschonende Wirtschaftweise und angenehme Arbeitsbedingungen zusammenfallen. Natürlich ist der Gemüseanbau nur bedingt vergleichbar mit z.B. einer Hochtechnologie, aber mir scheint, dass
es sich lohnt, einmal darüber nachzudenken, wo diese drei Merkmale sonst noch zusammenkommen könnten und was für Muster sich evtl. finden lassen.
10 Nachsatz zum Thema Prävention
Zum Thema Prävention soll nur ein Gesichtspunkt kurz erwähnt werden. Es gibt anscheinend einen
klaren und schon länger bekannten Zusammenhang zwischen dem Verlust von Lebensräumen von
Wildtieren und dem Risiko von Krankheitsausbrüchen. Ähnliches gilt für Nutztiere und die Art
und Weise wie bei uns tierische Lebensmittel produziert werden.
Einige Quellen/Links:
- Ulrich Krökel, Zeit online (23.03.2020): https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/coronavirus-osteuropa-ukraine-ungarn-polen-demokratie-pandemie-folgen/komplettansicht
- Perry Mehrling, “A Money View of the Pandemic” (26.03.2020): https://sites.bu.edu/perry/2020/03/26/a-money-view-of-the-pandemic/
- Tadzio Müller, Neues Deutschland (26.03.2020): https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134767.klimadebatte-praezedenzfaelle-der-coronakrise.html
- Mario Neumann, Maximilian Pichl, Der Freitag (20.03.2020): https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-welt-nach-corona-wird-jetzt-ausgehandelt
- Sonia Shah, Le monde diplomatique (deutsche Ausgabe) März 2020: “Woher kommt das Coronavirus?”
- Yanis Varoufakis, “Europes latest historic failiure” (23.03.2020): https://www.youtube.com/watch?v=jelIraqya6o