Seit einiger Zeit schon klagte ein Freund in Baku darüber, dass der wegen Corona verfügte strenge Lockdown im Lande immer wieder verlängert werde ohne nähere Begründung und Erklärung der Lage seitens der Regierung und auch ohne dass hohe Infektionszahlen z. B. in seinem Umkreis bekannt geworden wären. Jetzt wurden die angeblich coronabedingten Einschränkungen überführt in den Kriegszustand.
Es sieht so aus, als habe Aserbeidschan – ermutigt von der Türkei - am Sonntagmorgen einen unter dem Deckmantel von Corona vorbereiteten Angriff seiner zahlenmäßig überlegenen Streitkräfte zur Rückeroberung von Berg-Karabach begonnen, - aber auch, als habe Armenien diesen Angriff erwartet. Beide Seiten haben den Kriegszustand erklärt, und in beiden Ländern wütet – anders als bisher im benachbarten Georgien – das Virus angeblich besonders heftig und sind die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung schon seit Langem besonders streng. Offenbar kann mit Corona noch mehr angefangen werden, als das Virus lediglich zu bekämpfen … Den Gedanke, das Erscheinen von Corona für andere Zwecke zu nutzen, gibt es ja auch sonst, - z.B. zur Beschleunigung von Reformen gegen den Klimawandel oder für mehr Gerechtigkeit in der Welt, allerdings auch zur Beförderung autoritärer Regierungsformen.
Offenbar gehört doch allerhand Naivität dazu, daran zu glauben, dass die Erschütterungen, die die Pandemie gegenwärtig in der Welt verursacht, jedenfalls auch heilsam sein könnten. Überwiegend werden bisherige Agenden, vor allem die machtpolitischen, einfach weiterverfolgt bis hin zur Instrumentalisierung des Virus für ihre Zwecke. Die Bedrohung durch Corona kann nicht nur Deckmantel sein sondern auch - nomen est omen - Kulisse zur Erhöhung der finsteren Entschlossenheit, mit der altertümliche Kriege erklärt werden, - innere wie in Amerika und äußere wie im Transkaukasus! Und die in ihren engen Wohnungen wie Sträflinge gehaltenen oder durch unkontrolliert steigende Opferzahlen verunsicherten Menschen werden wie aus ihren Zwingern losgelassene Tiere aufeinander gehetzt.
Der doch etwas dämonischen, repressiven Seite von Coronavirus entspricht im Gegenzug die von ihm bei manchen hervorgerufene große Freiheitslust. Nur autoritär Herrschende können sich in ihrer Person beides leisten. Für die Andern ist Corona vor allem die Stunde gemeinsamer Vernunft und Verantwortung, - also die Stunde der Demokratie. Während autoritäres Regieren die Bedrohung durch das Virus immer erst noch umgießen muss in die Gestalt eines greifbaren Feindes, die Armenier oder die Schwarzen, um daraus Kraft zu ziehen, ist das Virus der Demokratie in gewisser Weise wesensverwandt und ruft mit seiner in schwankender Ungefährheit sich hinziehenden Erscheinung jedenfalls von sich aus ihre Fragen und Besorgnisse auf. Es sind dies Fragen, die am besten im ständigen Diskurs behandelt werden, - die Fragen nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, nach Gesundheit im Wohlstand, nach Zeit und Augenblick, Gewißheit und Erfahrung u.s.w. Diesen Platzvorteil sollte sich die Demokratie nicht nehmen lassen!
Es ist schon ein eigenartiger Paarlauf, den Russen und Türken in immer weiteren Kreisen vollführen – einander in Selbstverliebtheit feindlich verbunden, so scheint es, - von Syrien über Libyen bis Aserbeidschan. Es wirkt schon wie abgekartetes Spiel. Dieses Mal allerdings wechseln die Protagonisten vom Gebiet des einen Post-Imperiums in das des anderen. Die Natur imperialen Verhandelns und die zunehmende Müdigkeit des russischen Ersatzzaren könnten durchaus eine Verständigung befördern und ein weiteres Kondominium über ein Konfliktgebiet begründen - ohne Lösung für die unmittelbar Beteiligten. Dann werden die Coronazahlen dort aber wahrscheinlich wieder sinken, jedenfalls vorübergehend.