Wenn die Kanzlerin dieses Wort im Gespräch mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch gebraucht, hat, wie die Bild-Zeitung es groß herausbrachte, dann ist das bemerkenswert als ein Signal dafür, daß sie die an ihr immer wieder hervorgehobene Contenance als Naturwissenschaftlerin zumindest für einen Augenblick aufgegeben und sich wieder unter den biblischen Wahrnehmungshorizont ihrer Herkunft aus einem Pfarrhaus gestellt haben könnte. Das Wort ‚Unheil‘ wird ja nicht oft gebraucht, vielleicht, weil es altertümlich klingt.
Jedenfalls kommt es ziemlich schwergewichtig daher. Manchmal wird davon geredet, jemand werde weggesperrt, damit er ‚kein weiteres Unheil‘ anrichten kann. Im biblischen, zumeist alttestamentlichen Kontext sind es oft Propheten, die ein Unheil als eine Strafe Gottes voraussagen, und da die Verantwortlichen die Voraussage nicht ernst nehmen, trifft sie ein. Einmal vorausgesagt, kommt das Unheil fast immer. Frau Merkel ruft dazu auf, ein zweites Herunterfahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens durch vernünftiges Verhalten abzuwenden. Es sieht zur Zeit nicht sehr danach aus, als werde ihr da mehr Erfolg beschieden sein als den Propheten des AT.
Frau Merkel mit den Unheilspropheten der Bibel zu vergleichen, mag in beide Richtungen zu weit gehen,- was ihren Auftrag als Bundeskanzlerin angeht und was den Charakter des bevorstehenden Übels anlangt. Ein Entweder – Oder aber ist in der gegenwärtigen Coronalage zu spüren, nicht nur in der Mahnung der Bundeskanzlerin: Der Unterschied zwischen den ‚Anständigen‘, wie es auch schon heißt, die mitmachen, und den anderen, die kein Wohlverhalten zeigen, den ewig ‚Feiernden‘, wird deutlicher markiert - unter Inkaufnahme auch eines keineswegs vorurteilsfreien strengeren, die Böcke von den Schafen teilenden Blicks auf Jugendliche, Zuwanderer , Menschen, die verdächtig sind, der stipulierten ‚Leitkultur‘ im Umgang mit dem Virus nicht zu folgen. - Frau Merkel will ich jetzt mal raus lassen: Wenn schon Rückgriff auf das Pfarrhaus, dann ist ihr Auftreten seit Beginn der Krise wohl manchmal pastoral, - für mich füge ich hinzu „wohltuend“ pastoral -, aber nicht autoritativ prophetisch. Immerhin; jetzt hat sie „Unheil“ gesagt!
Damit deutet sich im öffentlichen Diskurs über Corona Virus eine Wende an. Nicht nur, daß wir wieder mitten drin sind im Virusgeschehen des Frühjahrs – auch die Nachfrage nach Klopapier nimmt auf geheimnisvolle Weise wieder zu! -, sondern es verfliegt auch die im Sommer noch starke Erwartung, daß wir mit der geballten Kraft des Staates das mit dem Virus über uns gekommenen Unglück bald hinter uns lassen könnten, - weltweit und auch in Deutschland, das für eine kurze Zeit als eine Art ‚Insel der Seligen‘ dagestanden hatte. Die Beendigung des Virusgeschehens scheint weit weniger ‚machbar‘ als bisher oft angenommen. Neben die immer noch eher vage Hoffnung auf den Impfstoff tritt zunehmend der Druck und die im Einzelnen noch auszubuchstabierende Forderung, nicht nur Verhalten und Lebensstil zu ändern, sondern auch damit verbundene bestimmte Deutungen des menschlichen Lebens. Ein willkürliches ‚Durchstarten‘ oder Anknüpfen an die Zeit vorher, wird zunehmend, so ist wohl zu erwarten, ausgebremst werden durch die gesundheitlichen und die sozialen Folgen eines ungehinderten Auftretens des Virus, will man nicht, wie im Roman Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ die Opfer der Pandemie hinter hohe Mauern verstecken. Auf unabsehbare Zeit wird die Herausforderung weltweit sein, die coronabedingt wachsenden Zahlen der Kranken und Armen mitzunehmen in die ‚neue Zeit‘. Der jetzt allerdings wohl häufiger zu beobachtende Versuch, den „nützlichen“ Teil von Wirtschaft und Gesellschaft vom leidenden Teil zu trennen und ihn dadurch funktionsfähig zu halten – paradigmatisch dafür scheint mir die inszenierte ‚Überwindung‘ des Virus durch Präsident Trump zu sein – ist demgegenüber eine Option, die sich um den Preis der Aufgabe von Demokratie und Menschenrechten durchsetzen könnte, was dann wirklich ein ‚Unheil‘ für die Menschheit wäre.
Der Vergleich ist sicher schief; aber, als Zedekia, der König von Juda, der den Mahnungen des Propheten Jeremia nicht gefolgt war, nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar mit seinen Großen fliehen wollte, gelang ihm das nicht, und er wurde mit dem Volk in die babylonische Gefangenschaft geführt (Jer 39, 4-7). Das dann doch! - Vielleicht wäre es folgerichtiger gewesen, die Juden selbst hätten sich Ihren König geschnappt und mitgenommen ins Exil. So hat auch das Nebukadnezar besorgt und Zedekia bei der Gelegenheit auch gleich noch geblendet, wohl als Hinweis darauf, daß dessen Durchblick schon vorher mangelhaft war.